Es ist ja kein Geheimnis. Während der Sommerferien bin ich hier in meinem Heimatort viel im oberen Wald unterwegs. Zum einen ist das gut für den Rücken und die Gesundheit allgemein, zum anderen ist dies für mich ein sehr guter Ort der Stille, der inneren Einkehr und damit der Zwiesprache mit Gott. Doch alles in dieser Welt ist einer ständigen Veränderung unterworfen, auch die Orte der Stille.
Vor zwei Jahren sorgten die in der beständigen, trockenen Hitze hartgebackenen Waldböden bald für Probleme mit den Gelenken, der Weg wurde zur Qual und nach knapp zwei Wochen brach ich die Aktion ab. Letztes Jahr war es die meiste Zeit so schwül und drückend, dass schon nach den ersten beiden Wanderungen mein Kreislauf schlapp machte und die Sommeraktion erst gar nicht zum Laufen kam. Und dieses Jahr? Das Wetter ist dieses Jahr fürs Laufen im Wald eigentlich zumindest vormittags optimal. Durch den reichlich gefallenen Regen ist das Blätterdach dicht und es ist schattig und erfrischend im Wald, die Böden sind größtenteils trocken aber nicht hartgebacken, so dass auch das Gehen für die Gelenke angenehm ist – also eigentlich alles perfekt. Tatsächlich machen in diesem Jahr aber diese fliegenden und gefühlt besonders aggressiven Plagegeister die Wanderung eher zu einer beständigen Flucht. Selbst mit Antiinsektenmittel von oben bis unten eingerieben vergehen kaum zehn Sekunden, dass nicht irgend so ein Mistvieh bald am linken, bald am rechten Ohr, bald dicht vor den Augen herumsurrt. Ein tiefer Atemzug und ich hätte wohl ein halbes Dutzend davon inhaliert. Die Zwiesprache mit Gott ist einer zunehmend aggressiven Zwiesprache mit diesem offensichtlichen Fehler der Evolution gewichen. Der Herr der Fliegen triumphiert, den Ort der Begegnung mit Gott hat er mir zu einer spirituellen Einöde gemacht. Und irgendwie glaube ich auch nicht daran, dass diese beständige Flucht die gewünschten körperlichen Effekte zeigen wird.
Hat der Teufel gewonnen?
Gott sagt mir: Nein. Ich bin da, auch wenn du mich an den bekannten, liebgewonnen Orten im Moment nicht hören kannst. Sei aufmerksam und spüre meine Gegenwart.
Und Gott hält Wort!
Ja, die Orte der Stille, in denen Gedanken auftauchen und sich über viele Minuten hinweg entwickeln in ein wirres Geflecht von Einsichten, das hier durchs Schreiben erst einmal entwirrt werden muss, diese Orte der Stille sind mir im Moment genommen. Doch Gott hat sich angepasst. Da sind kurze Gedankenfetzen, kurze Empfindungen – ein paar Sekunden dauernd und dann von der nächsten Störung unterbrochen. Aber sie sind da. Sie entwickeln sich vielleicht nicht im Laufe einer Zweitstundenwanderung, aber sie entwickeln sich hier beim Schreiben, dem mir verlässlichsten Ort der Stille. Und ich entdecke, Gott nutzt den ganzen Tag, nicht nur diese zwei Stunden auf die ich mich gerne mal wieder freuen würde.
Da war in den letzten Tagen immer wieder dieses Bild vom Jüngsten Gericht, das in meiner Vorstellung überhaupt keine Gemeinsamkeit mit den in der Offenbarung geschilderten Geschehnissen hat. Dort stehen die Toten aus ihren Gräbern auf und fordern Gerechtigkeit von Gott und die Art wie sie’s fordern und wie diese Gerechtigkeit dann beschrieben wird macht deutlich: Es ist (göttliche) Rache gemeint! Ich stelle fest, das Konzept der Rache hat sich mir nie erschlossen, ich verstehe es nicht. Jemand hat mir einen Schaden zugefügt, was habe ich davon, wenn ihm dieser Schaden dann auch widerfährt? Wird mein Schaden dadurch beseitigt oder zumindest etwas abgemildert? Nein! Rache verschafft mir Genugtuung, aber sie nützt mir nichts. Genugtuung beseitigt keine Schäden, heilt keine erlittenen körperlichen Wunden, sie vermag nicht einmal die mindestens ebenso schmerzhaften seelischen Wunden zu heilen. Seelische Befreiung von erlittenem Unrecht verschafft mir nicht Rache, sondern Vergebung. Selig, die ihren Schädigern vergeben können, denn sie werden wahrhaft frei sein!
Nein, mein Bild des Jüngsten Gerichtes ist ein ganz anderes und das lässt sich – das ist mir gestern Abend bewusst geworden – mit meinem Bibelkreis erläutern, der hier als Bild für das Reich Gottes steht. Wir sind ein offener Bibelkreis, das wurde gestern mal wieder betont. Menschen können jederzeit zu uns kommen, sich das ansehen und wenn es ihnen gefällt, wir ihnen nicht zu wenig oder (was ich mir nicht vorstellen kann) zu viel fromm sind gerne wiederkommen, bleiben, Impulse bekommen, eigene Impulse einbringen.
Genauso ist in unserer Zeit auch das Reich Gottes beschaffen. Du kannst es dir betrachten, es gibt viele Quellen, die Bibel, Bibelkreise, Gottesdienste, Feste, soziale und karitative Einrichtungen und vieles mehr – alles beschreibt ein bisschen vom großen Ganzen. Wenn es dir zusagt, nimm das Reich Gottes an und richte dich darin ein – es ist ein offenes Angebot. Ich glaube und denke, es gibt wenig Heilszusagen auf dieser Welt, die ihren Ursprung so radikal in deinen ureigensten Bedürfnissen haben. Aber ich kann mich irren. Doch selbst in der Bibel hören wir Gott immer wieder sagen: Schau dir doch an, was ich sage und was ich tue und dann entscheide selbst!
Das Reich Gottes ist in unserer Zeit ein offenes Reich in das jeder ein- und ausgehen kann, wie er mag. Es ist im Grunde also genauso organisiert, wie unser offener Bibelkreis.
Natürlich gibt es einen wesentlichen Unterschied. Das Reich Gottes wird nicht immer offen bleiben! Das Jüngste Gericht, für mich ist die Formulierung „Jüngster Tag“ treffender, wird der Zeitpunkt sein, an dem die Zugänge zu diesem Reich geschlossen werden. Wer sich dann nicht entschieden hat reinzukommen, wird draußen bleiben, und zwar in Ewigkeit.
In meiner Vorstellung braucht es da keinen Feuersee mehr, in den die verlorenen Seelen geworfen werden, um in Ewigkeit Höllenqualen zu leiden. In Ewigkeit von der dann einzig verfügbaren Gemeinschaft ausgeschlossen zu sein, das ist die Hölle. All das, was wir heute als Leben bezeichnen, all das wird sich im Reich abspielen, außerhalb ist ewige Einöde. Kannst du dir das vorstellen? Ohne Sinn, ohne Ziel, ohne die Empfindung von Leben – wie die Bibel es nennt: ohne Licht, in der ewigen Finsternis – zu existieren? Nein, ich kann und will Gott nicht bitten, diese verlorenen Seelen auch noch darüber hinaus für etwas zu bestrafen, was sie mir vielleicht irgendwann einmal angetan haben. Ich will Gott lieber bitten, dass er mir die Kraft gibt, ihnen zu vergeben, damit ich frei von ihnen und ihrem Einfluss bin.
Und was mache ich nun mit der spirituellen Einöde in dieser Welt – im aktuellen Fall dem oberen Wald im Sommer 2024? Jesus empfiehlt, den Kämpfen, die wir nicht gewinnen können, auszuweichen und abzuwarten, bis die Luft wieder rein ist. Genaugenommen gab er seinen Jüngern diesen Rat – nämlich in die Berge zu fliehen, bis alles vorbei ist – für die Zeit, wenn der Endkampf zwischen Gut und Böse in dieser Welt losbricht, bei dem es nichts mehr zu gewinnen gibt. Aber irgendwie passt das auch auf ein paar Millionen überflüssiger Mücken. Ich werde ihnen zumindest bis zum nächsten heftigen Wettersturz, der hoffentlich 80 % der Viecher ersäufen wird, ausweichen und andere, kürzere Wege gehen. Ich bleibe in Bewegung und warte ab, bis der Himmel die Sache für mich regelt. Mal ganz abgesehen davon, dass es einen solchen Endkampf in meiner Vorstellung nicht geben wird, weil der Sieg bereits in der Vollendung des Reiches Gottes ist. Somit ist auch der nicht zu gewinnende Kampf gegen die fliegenden Plagegeister, die mich von meinem Gott trennen wollen, schon ein bisschen Endkampf …
Was zu beweisen war!
Der Herr der Fliegen kann mir meine Orte der Stille verderben. Er kann mich aber nicht von meinem Gott und seiner Stimme trennen. Ich kann ihn immer noch hören.
Ich habe gewonnen!