„Darum siehe, es kommen Tage, / da suche ich die Götzen Babels heim“ (Jer 51,47)
Mit dem Lesen der letzten Kapitel des Buches Jeremia zeigte mir Gott, warum er es so eingerichtet hat, dass meine Reise durch die Bibel hier endet und das Projekt „Bibellese“ auch hier zu einem Ende kommen und nicht fortgesetzt werden soll.
Die Eroberung von Jerusalem und Juda ist bereits in vollem Gange, da heißt Gott Jeremia ein Stück Land im besetzten Königreich zu kaufen, auf das er das Löserecht hat. Damit will Gott deutlich machen, dass Israel wieder aufgebaut werden wird. Ansonsten geht es aber stetig abwärts mit Land und Leuten. Immer wieder bedrohen die Israeliten das Leben des Propheten, denn sie empfinden ihn, der sie immer wieder auffordert, ihren falschen Göttern abzuschwören, als Bedrohung. Briefe des Propheten gehen an die letzten Könige (und später Stadthalter) Judas, in denen er ihnen ihre Verschleppung oder gar ihren gewaltsamen Tod vorhersagt. Er macht deutlich, die fremden Götter, die Volk und König anbeteten würden keine Rettung bringen und warnt dabei auch vor den falschen Propheten, die genau dies behaupten.
Schließlich wird auch der Prophet selbst zusammen mit großen Teilen der Bevölkerung nach Babylon verschleppt. Einen Überrest des Volkes, der dem ersten Sturm des babylonischen Heeres entgangen war und der jetzt nach Ägypten unter den Schutz des Pharaos und dessen Göttern fliehen möchte, fordert Jeremia auf, im Land zu bleiben und stattdessen zu Gott umzukehren. Doch auch sie hören nicht auf den Propheten. Kurze Zeit später unterwirft Nebukadnezar auch Ägypten. In den Kriegswirren kommen viele der israelitischen Flüchtlinge wie prophezeit ums Leben.
Nach einem Trostwort an Baruch, der für Jeremia Fürsprache beim König einlegte und dem Propheten so das Leben rettete – für diesen Dienst wird Gott ihn und seine Familie schützen – folgen Ankündigungen für die Nachbarvölker Israels über deren Ende. In der Tat schwang sich Babylon in jener Zeit zu einer Großmacht in der Region auf und unterwarf alle Völker im vorderen Orient. Doch auch Babylon wird dem Gericht Gottes nicht entgehen. Der persische König Kyros II. wird das Babylonische Reich schließlich auch unterwerfen und später sogar die Israeliten – ziemlich genau 70 Jahre nach ihrer Verschleppung – nach Jerusalem zurückkehren lassen.
Jeremia kündet noch von einem „Volk aus dem Norden“, das alles umwälzen und verändern wird. Aus der Geschichte wissen wir, diese alles verändernde Macht war Griechenland und ihr König Alexander, dem Großen, die dann später durch das Römische Reich abgelöst wurde … das dann, etwa 400 n. Chr. im Druck der Völkerwanderungen im Westen zerbröselte. Das Oströmische Reich fand sein Ende im Sturm der Moslems auf Europa. Doch selbst dieses erste und einzige islamische Großreich hatte keinen dauerhaften Bestand. Es unterlag dem Ansturm der vereinten Christen Europas und den eigenen inneren Streitereien um die Macht, die zum Teil bis heute andauern.
Auch die sogenannten Weltreiche der Neuzeit, von denen keines mehr Glanz und Größe Babylons oder Roms erreichen konnte, hielten sich immer nur verhältnismäßig kurze Zeit. Auch die Götter, die diese Reiche mit in die Welt brachten, gingen mit den Reichen unter. Das Römische Reich verbannte sogar seine Götter, die man einst der griechischen Kultur entnommen hatte und denen man einfach neue Namen gab, und bekannte sich unter Kaiser Konstantin, dem Großen zum Christentum. Genützt hat es Rom, dem letzten heidnischen Weltreich der Antike, letzten Endes nichts.
Überdauert hat all diese Umwälzungen nur einer: Gott – der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs (und Ismaels!), der Gott, den wir Vater nennen. Weltreiche kommen und gehen – Gott bleibt. In einer Welt der ständigen Veränderung, in einem Universum, das mit unbegreiflicher Geschwindigkeit auseinanderfliegt, ist dieser Gott der Anker in Raum und Zeit. Er ist und bleibt, was er Moses einst über sich sagte: „Ich bin.“ Nicht schlecht, für ein „Hirngespinst“ einiger Verrückter!
Aber wenn dieser Gott so unverwüstlich und verlässlich ist, was bewegt dann Menschen immer wieder andere Götter anzubeten?
Schauen wir zum Abschluss dieses Bibellese-Projekts noch einmal ins antike Königreich Israel, das uns ja auf dem gesamten Weg durch die Bibel als unser eigenes Spiegelbild diente.
Die Israeliten hatten diesen Gott in all seiner Größe und Macht erlebt, als sie aus Ägypten auszogen. In den Jahrhunderten danach, waren die Zeichen Gottes nicht mehr so stark. Dass Gott seinem Volk bei der ein oder anderen Bedrohung durch fremde Völker mittels himmlischer Intervention den Hintern gerettet hatte, verbreitete sich ja mangels Massenmedien eher schleppend und allein durch Mundpropaganda. Dagegen erlebte jeder Israelit seine eigenen Probleme mit der Welt im Allgemeinen und mit dem Nachbarn im Besonderen live und hundertprozentig authentisch. Und das ist das Problem!
Gott hat den großen Plan im Blick, den die Israeliten nicht verstanden, weil er über ihren Horizont hinausreichte – den auch wir nicht verstehen, weil er auch über unseren Horizont immer noch genausoweit hinausreicht. Gott kümmert sich natürlich um jeden einzelnen seines Volkes/seiner Kinder, so wie es nötig ist, aber halt oft nicht so, wie sich das der Einzelne wünscht. Es geht darum, dich ins Ziel zu bringen, ausgestattet mit all den Erfahrungen und Erkenntnissen, die für dich vorgesehen sind. Nirgendwo steht, dass dieser Weg ausnahmslos eben und der Himmel über dir durchweg heiter sein wird.
Unter diesem Gott sind wir Teil eines größeren Ganzen. Jeder Stein im Gesamtwerk trägt alle anderen Steine. Das Individuum findet seine Vollendung in der Gemeinschaft (Gottes). Das ist der Plan Gottes.
So funktioniert diese Welt, wie sie sich die Menschen gemacht haben und wo jeder sich selbst der Nächste ist, aber nicht! So könnte sie aber funktionieren, wenn wir Christus nachfolgten. Das ist die Freiheit Gottes, die die Bibel meint.
Wir sind nicht länger Knechte der von uns selbst gemachten Beschränkungen („falsche Götter“), wenn wir uns diesen Beschränkungen nicht selbst unterwerfen.
Doch dieses „gegen den allgemeinen Strom schwimmen“ war schon den alten Israeliten zu mühselig. Das steht so nicht in der Bibel, aber ich glaube, diese fremden, falschen Götter waren für sie deshalb so attraktiv, weil man bei diesen – so der Glaube – nicht mehr ein Stein im Gesamtwerk war. Man konnte mit diesen Göttern seinen privaten Frieden schließen. Man opferte für sein persönliches Glück und damit der Blitz beim Nachbarn einschlägt, der dem jeweiligen Schutzgott – hoffentlich – nicht so viel geopfert hatte. Glaube und Religion nach dem „Schutzgeldprinzip“.
Menschen sind von Natur aus Egoisten. Ein bestechlicher, käuflicher Gott ist von ihrem Schlag und damit für sie angenehmer zu handhaben. Menschen, die ihnen verkünden, dass genau dieses Prinzip – „Ich, meine Familie, mein Land zuerst!“ – heilsbringend sei, werden daher eher als Propheten, ja sogar als Messias anerkannt, also solche, die ihnen sagen: „Du bist nur ein Stein im Gesamtwerk. Du bist Staub ohne die Gemeinschaft.“ Was nützt mir das Gesamtwerk bei meinen eigenen Wünschen und Zielen? Eben!
Beim Lesen der letzten Kapitel des Buches Jeremia wurde mir immer deutlicher, es hat sich in dieser Hinsicht in den 3000 Jahren von Jeremia bis heute absolut nichts geändert!
Wir opfern zwar nicht mehr an Steinaltären auf irgendwelchen Höhen, wir nennen das, was wir ehren auch nicht mehr Götter – aber wir behandeln unsere Götzen nach wie vor so, ja, wir opfern ihnen sogar. Und wir wählen auch unsere Propheten genauso, wie es schon die alten Israeliten taten.
Im Zeitalter der Wissenschaft haben sich die Gesichter der Propheten geändert. Wir halten uns für aufgeklärt, darum schickt Gott uns Wissenschaftler. Soziologen warnen seit Jahrzehnten, dass die Ungleichverteilung der Güter dieser Welt zu Unruhen (Frucht der Gier), Wanderbewegungen, Verteilungskämpfen und Kriegen führen wird. Klimaforscher und Geologen warnen ebensolange, dass die Ausbeutung des Planeten, die durch maßlosen Konsum verursachte Umweltverschmutzung schwerwiegende ökologische Katastrophen (Frucht des Egoismus) auslösen werden. Aber wir hören auf andere Propheten, jene nämlich, die uns erzählen, dass wir zur Rettung auf dem aktuellen Weg bleiben müssen (was wir ja auch wollen). Und so setzen wir weiterhin mit großer Mehrheit global auf die gewohnten, liebgewonnen alten Götter mit Namen Wachstum und Konsum. Als Steine in einem Gesamtwerk, zu dem Gott uns formen möchte, würde uns dieses Wachstum anwidern, denn es ist unförmig. Das nach unseren Wünschen und Vorstellungen auf Egoismus und Gier aufgebaute Gesamtwerk ist schief, es ist nur eine Frage der Zeit, wann es einstürzen wird. Und genau wie im alten Israel wird es nicht die Strafe Gottes sein, die den Zusammenbruch bringt, es wird die Frucht unseres wider besseren Wissens, des fortgesetzt falschen Verhaltens, dem fortgesetzten Anbeten der selbst geschaffenen falschen Göttern sein.
Es ist unbestreitbar: Die Symptome sind heute ganz andere als damals, das Problem – die Anbetung falscher Götter – ist aber absolut dasselbe!
Gibt es zum Ende dieses Projektes also überhaupt keinen Trost?
Jeremia hat ihn! Bei einigen Völkern, über die er das Gericht Gottes verkündet, schreibt er am Ende überraschend, dass Gott ihr Geschick eines Tages wenden wird. Den Israeliten schreibt er, dass Gott weiterhin über sie wacht und sie heimführen wird.
Das ist unser Trost. Das Wort Gottes ist unser Trost! Als Kinder Gottes sind wir die Nachkommen des biblischen Israels. Alle Menschen, die sich in ihrem Herzen zu Christus bekennen, gehören wir diesem Volk der Verheißung an. Über die Grenzen der Nationen hinweg erkennen wir uns als ein Volk. Ein Volk sein, das ist unser Auftrag. Sich unter Gott demütigen heißt, mit Freude ein Stein im Gesamtwerk Gottes zu sein und so zu handeln. Wir sind Teil eines Größeren, eines Ewigen, Teil von etwas, das wir in diesem Leben nicht verstehen können. Gott sagt: „Kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (Ex 33,20 – Schlachter 2000). Das heißt nicht (wie in der Einheitsübersetzung geschrieben), dass wir sterben müssten, wenn wir ihn sähen, es heißt, wir sehen ihn, wenn wir verstehen und wir werden erst vollständig verstehen, wenn wir dieses Leben abgelegt haben und ganz eins mit Gott sind. Die Sinne, die uns jetzt zur Verfügung stehen, sind dafür nicht ausreichend. Doch schon jetzt – ganz ohne Verstehen, einfach angenommen, wie Kinder das tun – sind wir Teil von diesem Großen, diesem Ewigen – ein Stein im Gesamtwerk, ein Stein, der alle anderen Steine trägt, so wie alle anderen Steine es auch tun, und als Ganzes wie als Individuum getragen von Gott. Das Verständnis, die Einsicht darüber genügt bereits um frei zu werden und sich immer wieder neu zu befreien von unseren selbst geschaffenen Göttern, die winzig, nichtig sind gegen das, was uns von Gott bereits jetzt geschenkt wurde. Ein Verständnis, das in uns ein anderes Wachstum in Gang setzt, als die Welt uns bieten kann, ein Wachstum, das uns einen anderen Frieden gibt. Frieden in Gott zu haben bedeutet in sich selbst angekommen zu sein, denn wir kommen aus Gott und wir gehen dorthin zurück.
Alle unsere Pläne in dieser Welt werden letzten Endes scheitern, denn sie sind so vergänglich, wie unser irdisches Leben. Doch als Teil des Planes Gottes, der jenseits unseres Verständnisses bereits erfüllt und ewig ist, werden seine Kinder leben.