Hesekiel 19 (28. Juni)

„Juda ist ein junger Löwe. Du bist hochgekommen, mein Sohn, vom Raube. Wie ein Löwe hat er sich hingestreckt und wie eine Löwin sich gelagert. Wer will ihn aufstören? Es wird das Zepter von Juda nicht weichen noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis dass der komme, dem es gehört, und ihm werden die Völker anhangen. Er wird seinen Esel an den Weinstock binden und seiner Eselin Füllen an die edle Rebe. Er wird sein Kleid in Wein waschen und seinen Mantel in Traubenblut. Seine Augen sind dunkler als Wein und seine Zähne weißer als Milch.“ (Gen 49, 9-12)

In einem bildhaften Rückblick wird der Niedergang Israels, vertreten durch der Königslinie des Hauses David, das zuletzt nur noch über das Südreich Juda herrschte, betrachtet:

Eine Löwin (Juda bzw. das Haus David), die inmitten von Löwen ihre Jungen großzieht. Umgeben von Unmoral und Gewalt erstehen so aus dem Hause Könige, die mit Gewalt regieren (Joahas und Jojakin) und durch Gewalt, einen Krieg gegen Ägypten und einen Krieg gegen Babylon, ihre Macht und Königswürde verlieren.

Der Untergang des Hauses David bringt den Untergang Israels mit sich, das Volk Gottes, das hier mit einem Weinstock verglichen wird, dessen Reben nun – ausgerissen und sterbend – keine Frucht mehr hervorbringen werden.

Dieses Klagelied ist eine Warnung, sowohl an die Führer, wie auch an die Kinder Gottes aller Generationen: Eine schlechte, unfähige Führung hat den Untergang des Volkes herbei geführt. Diese Führung war sicher überzeugt, im Sinne des Volkes zu handeln, als sie durch Bündnisse mit fremden Herrschern und Götzen den von Gott vorgegebenen Weg verließ. Sie war überzeugt, die Erhaltung der eigenen Macht würde gut für das Volk sein. Es ist nicht anzunehmen, dass ein König an irgendeinem Punkt sagt: „Das Volk ist mir doch völlig egal!“ Führer sind überzeugt, dass das Volk auf genau ihre Art der Führung angewiesen ist, um zu überleben.

Umgekehrt fühlen sich große Teile der Geführten auch nur unter einer starken Hand sicher und tolerieren Übergriffe und Gewalt seitens der Führung als notwendiges Zeichen der Stärke - zumindest solange sie nicht selbst davon betroffen sind. Wären die Israeliten jener Tage einem König gefolgt, der gesagt hätte: „Leute so kann es nicht weitergehen! Wir sind vom Weg abgekommen und müssen Dinge ändern. Das wird für viele schmerzhaft werden, aber mit Mut und Gottes Hilfe können wir es schaffen!“? Vielleicht, doch dann hätte dieser König auch diesen Glauben, diese Überzeugung im Herzen haben und sie mit jeder Zelle seines Körpers ausstrahlen müssen.

Die meisten Menschen sind generell konservativ eingestellt; sie wollen das Bewährte erhalten – und damit sind meist bekannte, über Generationen beibehaltende Handlungsmuster gemeint. Viele Menschen sind bereit Lügen, ja sogar Gewalt zu tolerieren, wenn die Mächtigen ihnen versprechen, dass trotz der anstehenden Veränderungen im Grunde alles so bleibt wie es war. Das Verhalten der Israeliten beim Auszug aus Ägypten, insbesondere zwischen dem Berg Sinai und der ersten Ankunft am Jordan, ist ein exemplarisches Beispiel für diesen Konservatismus. Plötzlich, als die alles umwälzenden Veränderungen sicht- und spürbar wurden, wurden die Unterdrückung und Ausbeutung durch den Pharao zu den Fleischtöpfen Ägyptens und der Weg in die Freiheit (Eigenverantwortlichkeit) des eigenen Gottes als Bedrohung empfunden, gegen die man Widerstand leistete.

Und die Mächtigen sind in den heutigen politischen Systemen genau diesem Druck ausgesetzt. In Demokratien verliert man Wahlen mit der unangenehmen Wahrheit, in Autokratien und Diktaturen riskiert man damit einen Bürgerkrieg.

In der Kirche, im Grunde nichts anderes als ein Feudalstaat ausgebreitet über die Nationen, funktioniert das nicht anders: Die Führer sehen die Probleme, scheuen aber vor radikalen Reformen zurück, weil sie um weite Teile der Gläubigen wissen; Gläubige, die ewige Beständigkeit des Bekannten erwarten, Gläubige, die sich verstört aus der Gemeinschaft zurückziehen, wenn Strukturen der „ewigen Gültigkeit“ durch neue ersetzt werden. Wer möchte dafür verantwortlich sein (oder sich dafür verantwortlich fühlen), dass eine seiner Entscheidungen zum endgültigen Zusammenbruch der (überholten, nicht mehr tragfähigen) Struktur geführt hat.

Erscheint es da nicht besser, durch fromme Reden den Erhalt der ewigen Kirche zu proklamieren und durch einzelne oberflächliche Reparaturen die tiefen Risse in der Struktur zu verbergen?

Natürlich gibt es in Kirche wie Politik auch Menschen, die einfach an ihrem Amt und an der Macht kleben, aber ich behaupte, dass selbst viele von diesen sich gar nicht mehr ihrer wahren Motive bewusst sind. Zu sehr und zu lange leben sie bereits die selbst um sich errichtete Lüge, zu gründlich haben sie sich ihre eigene Wahrheit geschaffen.

Für die Kirche gäbe es freilich einen Ausweg aus diesem Dilemma: Die Wahrheit ist bei Gott, denn die Wahrheit ist Gott. Wenn die Struktur Risse bekommt und zu bröckeln beginnt, kann das nur heißen, dass ihr Fundament nicht mehr auf der Wahrheit, nicht mehr auf Gott gegründet ist. Und an diesem Punkt der Erkenntnis ist die gesamte Struktur und sind alle Ämter innerhalb derselben obsolet geworden. Das irdische Reich, die irdische Kirchenorganisation endet (wie alles Irdische endet), denn sie stützt sich offensichtlich nicht mehr auf Gott.

Ist damit die Kirche, sind damit die Seelen für Gott verloren? Offensichtlich nicht, denn Gott spricht auch jetzt. Gerade in Zeiten unseres Fallens ruft er lauter und geht mit uns durch diese Zeit der Neuorientierung. Ein Anfang ist, die Ursprünge wiederzuentdecken.

In Kapitel 19 ist es die Art der Gründung Israels:

„Deine Mutter war wie du ein Weinstock, an Wassern gepflanzt, der viele Früchte und Reben bekam vom vielen Wasser.“ (Hes 19,10)

Israel war von Gott am Wasser gepflanzt worden, das heißt am Reichtum seines Wortes. Diesen Reichtum hat es verlassen.

Unser Reichtum ist Jesus Christus, das fleischgewordene Wort Gottes, und der sagt:

„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts tun.“ (Joh 15,5)

Die Situation ist identisch.

Auch wenn die von uns (auf Wüstensand) erbauten Strukturen zerbrechen mögen, das ursprüngliche Fundament ist stabil. Wir müssen nur dorthin zurückkehren. Das Schwierigste an diesem Projekt wird der ehrliche Aufbruch sein, denn er wird wahrscheinlich die Herde erst einmal zerstreuen – genau, wie das bei den Israeliten passierte. Doch der Hirte ist da!

„Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir nach; und ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie werden in Ewigkeit nicht verlorengehen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen.“ (Joh 10, 27-28)

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